Auf den letzten Metern

Heute gab es in Lüneburg, nur eine Station von meiner Ziel-, End- und Lieblingsstation Winsen an der Luhe entfernt, eine Durchsage im unkaputtbarsten Zug von allen: Bitte Aufmerksamkeit, eine Oberleitung auf der Strecke Lüneburg-Hamburg sei heruntergekommen, die Zugfahrt ende hier, es gibt einen Schienenersatzverkehr. Nun ist eine Oberleitung, die nicht oben sondern unten ist, erstmal schlecht, schlimmer ist aber ein Schienenersatzverkehr. Ohne Rücksicht auf die Menschenrechte werden vormals harmlose Passagiere in Busse gepfercht, wodurch die Stimmung in 99 von 100 Fällen eskaliert. Doch der Reihe nach.

Als erstes fiel ein Kleinkind auf, das wohl zu viele Sat.1-Katastrophenfilme gesehen hatte und total auf die Ausnahmesituation abging. Es flitzte ständig in der Menschenmenge umher und brüllte herum. Als ich es das letzte Mal sah, heulte es wie am Spieß, seine Mama war nirgends zu sehen.
Als die Busse endlich kamen, verschwand als allerestes der Busfahrer, da er keine Ahnung hatte, wo es hingehen sollte. Später stellte sich heraus, daß die Zeit auf jeden Fall nicht dafür genutzt wurde, um sich Ortskenntnisse zu beschaffen. Ich ergatterte einen Spitzenplatz im Bus, nachdem ich beim Einsteigen um ein Haar totgetrampelt wurde, und bangte, daß dieser Bus evtl. direkt nach Hamburg fahren würde – ohne den Umweg ins beschauliche Winsen, wo meine alten Herrschaften auf mich warteten. Diese meldeten sich nach Ewigkeiten auch mal per Handy mit den Beteuerungen „es hat schon wieder nicht geklingelt, als Du angerufen hast!“. Sie wurden angewiesen, es sich in der Winsener Bahnhofsgastronomie gemütlich zu machen.

Nach einiger Zeit kam der Busfahrer zurück (einigen Passagieren juckte es offensichtlich schon in den Fingern, den Bus kurzerhand zu hijacken), leider war die Sprechanlage kaputt. Der Busfahrer bat also alle, ruhig zu sein, und machte seine Ansage, daß es nun nach Winsen ginge, dort würde auch ein Zug stehen zur Weiterfahrt nach Hamburg. Natürlich führte schon die Ansage „Mal alle ruhig jetzt!“ erstmal dazu, daß ca. die Hälfte der Insassen „Was? Hä?“ sagte, was von der anderen Hälfte mit „Psst! Fresse! Der Busfahrer sagt was!“ kommentiert wurde. Am Ende setzte sich eine Art „Stille Post“ vom Busfahrer bis in die hinteren Teile des Busses durch, die ihren Höhepunkt in der Frage fand, ob jemand in Rattenloch aussteigen wollte. Gemeint war Radbruch… Beantwortet wurde die Frage im Übrigen mit einem geschrienen „Nein, aber ich hab heute meinen 18. Geburtstag!“ – „Toll!“ – „Glückwunsch!“ – „Wo ist der Sekt?“

Nun führt der kürzeste Weg von Lüneburg nach Winsen weder über Radbruch noch über Rattenloch und mir wurde schon ganz bange. Am Ende fuhren wir doch direkt nach Hamburg? Oder nach Bienenbüttel? Und, verdammt, wieso sind hier eigentlich nirgends Häuser? Sieht so nicht die Autobahn nach Berlin aus?

Ich fing an, mir Tötungsstrategien für meine Mitfahrer auszudenken. Am schlimmsten war ein Bayer von der besonders krachledernen Sorte, der im Fünf-Sekunden-Takt aufmunternde Sprüche raushaute. Ein ca. 12-jähriger Junge rief bei seiner Mama an, daß er später kommen würde. Nein, sie müsse sich keine Sorgen machen, der Zusammenhalt unter den Mitfahrern sei ganz prima, sagte er wörtlich. Er hatte sich mit dem Bayern angefreundet und verteilte Marzipan und Kinderschokolade. Man muß sich wenig Sorgen machen, sollte in Deutschland mal irgendein Notstand ausbrechen.

Neben mir saß eine junge Frau, die die ganze Zeit friedlich in einem Buch laß und keinen Mucks sagte. Wäre sie ein Kerl gewesen, hätte ich Ihr höchstwahrscheinlich einen Heiratsantrag gemacht.

Auf dem längstmöglichen Weg kamen wir tatsächlich noch in Winsen an, wo das Chaos tobte, da natürlich auch hinreichend Leute aus Hamburg kamen und Richtung Lüneburg wollten. Die ortsansässige Bahnhofsgastronomie machte das Geschäft ihres Lebens und die Altvorderen wurden besonders erleichtert gedrückt, als sie endlich mal geortet wurden. Jetzt genieße ich gerade, ca. 60 m² ganz für mich alleine zu haben. Der Himmel!

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4 Antworten zu Auf den letzten Metern

  1. bullion schreibt:

    Manchmal denke ich, man sollte deine Erlebnisse verfilmen. Mit zynischem Kommentar aus dem Off. Stelle ich mir toll vor!

  2. Inishmore schreibt:

    DEN Film würde ich mir auch angucken. Von SAT1 mittelbar herangezüchtete Katastrophenschreier und Typen der Marke „ich wäre auch gut drauf, wenn um mich herum Menschen sterben würden“ sollte man amtlich verbieten.

  3. Dr. T. Le Vision schreibt:

    Schienenersatzverkehr ist wohl eines der schlimmsten deutschen Wörter. Ich weiß schon, warum ich nie mit der Bahn fahre… 😉

    Den Film möchte ich dann aber auch unbedingt sehen!

  4. Thomas schreibt:

    geile story, cooler Schreibstil 😀

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